News aus der Ukraine – April 2024
Annelies Debrunner berichtet im Interview von ihrem Besuch in Lviv und Kyjiw
Fragen an Annelies Debrunner
Die 10-tägige März Reise war deine 4. Reise in die Ukraine seit Kriegsbeginn. Nach 30-stündiger Zugfahrt über Krakau bist du am Freitag, 1. März in Lviv angekommen. Wenn du zurückschaust und deine 3. Einreise vom letzten Sommer mit deiner aktuellen Märzeinreise vergleichst, was ist augenfällig?
Die vielen Zelte der NGOs zur Gratisverpflegung sind verschwunden. Die Warteschlangen beim Zollhäuschen sind jedoch gleich lang geblieben, auch die Wartezeit von drei Stunden war mir nicht unbekannt.
In Lviv hat dich Nataliya Podzorova, die Präsidentin des Clubs SI Lviv, am Bahnhof abgeholt und ihr seid zu ihr nachhause gefahren. Wie ging es weiter?
Nach der langen Reise war ich natürlich müde, aber meine Freude über das Wiedersehen mit Nataliya liessen mich die Müdigkeit und Anspannung vergessen. Wir erzählten uns (Nataliya spricht sehr gut Deutsch) Neuigkeiten und ich überbrachte Grüsse und Käse aus der Schweiz. Nach einer erholsamen Nacht und einem wunderbaren Frühstück erschreckten mich die nationalen Neunuhr-Nachrichten. Plötzlich wurde ich mit aller Wucht mit dem Kriegsgeschehen konfrontiert. Aber heute sollten wir keine Zeit zum Grübeln haben, denn schon warteten die zwei Soroptimistinnen Valentyna und Irina auf uns. Wir wollten sechs sehbehinderte Frauen, teilweise mit ihren Familien, besuchen.
Im 13. News Bericht vom 13. April 2023 konnten wir von dir lesen, dass der zweite Stock im Familienheim noch renovationsbedürftig sei. Auch seien die Böden und Inneneinrichtungen schlecht und es sei schwierig, Ordnung zu halten.
Ja, das war vor einem Jahr. Im zweistöckigen Haus ist innerhalb eines Jahres viel umgebaut worden. Es ist Stauraum und Vorratsplatz für alle Familien und Frauen geschaffen worden. Mit mehr Stauraum kann nun der Alltag der Bewohnerinnen einfacher funktionieren. Auf dem Spielplatz steht jetzt ein neues Schaukelgerät. Mein zweiter Tag in Lviv endete mit einem Besuch des Opernhauses. Nach der Nationalhymne erlebten wir die wunderbare Oper Carmen.
Und der dritte Tag?
Es war ein Sonntag. Das heisst, es war eine gute Gelegenheit, die Soroptimistinnen vom Club SI Lviv zu versammeln. Ein Clubmeeting und die offizielle Einweihung der Therapieräume im Waisenhaus in Liyubyn Velyky stand auf dem Programm. Unterwegs zum Heim kauften wir frische Früchte ein. In Liyubyn Velyky finden die Vulnerabelsten, die psychisch am meisten Versehrten eine Bleibe. Sie haben schwere Traumata und brauchen verschiedene Therapien. Es leben rund 75 Kinder und Jugendliche dort. Beinahe alle Clubschwestern aus Lviv sind bei der Besichtigung und Einweihung dieser Therapieräume anwesend und überglücklich, dass diese dank ihrem Beitrag und der Zusammenarbeit mit dem Hilfswerk Ukraine von Jürg Streuli realisiert werden konnten.
Und wie war das anschliessende Clubmeeting?
Später fuhren wir zum Essen in ein Restaurant. Die Präsidentin Nataliya bedankte sich nochmals bei allen Mithelferinnen und gab ihrer Freude über die gute Zusammenarbeit Ausdruck. Die Frauen wurden anschliessend mit einem wunderschönen blau-gelben Seidenschal beschenkt! Es war das Geschenk unserer Schweizer Union zum 8. März, dem internationalen Frauentag.
In Lviv und Umgebung warst du weit weg vom aktuellen Kriegsgeschehen. Der friedliche Anblick von Lviv, einer an Geschichte, Kultur und Kunst reichen Stadt trügt aber.
Friedlich ja, ich musste gottlob nicht Zuflucht in einem Bunker suchen. Aber die Soldaten, Soldatinnen und Kriegsversehrten sind in den Strassen omnipräsent. In der Kirche der Soldaten durften wir eine Hochzeitszeremonie eines Soldaten mit einer wunderschönen Braut miterleben. Nataliya sagte später: «Heute Hochzeit – dann direkt in den Kampf». Auch die vielen Fotos der Gefallenen habe ich dort in einer Ausstellung gesehen. Sehr eindrücklich sind die Kindernotizen. Ein Sohn schreibt: «Mein Vater ist ein Held. Er ist jetzt im Himmel. Ich möchte auch so werden wie er.» Ein kleines Mädchen wünscht sich eine Bahnverbindung zur Wolke, wo ihr Vater jetzt lebt.
Deine weitere Reise führte dich nach 5 Tagen und einer 6-stündigen Zugfahrt nach Kyjiv. Dort hast du die Präsidentin Maria Bilodid und ihre Familie besucht. Auch die Soroptimistinnen von Club SI Kyjiv haben dich herzlich begrüsst und dir im Gespräch ihren Alltag, ihre Sorgen und Ängste beschrieben.
Mein Besuch in Kyjiw wie auch in Lviv war für die Frauen eine enorme moralische Unterstützung. Wohl erhalten sie Geld für ihre Projekte, aber dass ich mich persönlich für ihre Projekte interessiere, mich nach ihrem Alltag und ihren Sorgen erkundigte, war sehr wichtig für sie.
Millionen Menschen haben das Land verlassen, Hunderttausende sind an der Front oder sogar gestorben. Wir wissen, für die verbleibenden Ukrainerinnen bedeutet das eine enorme Herausforderung. Sie übernehmen „männliche“, körperlich sehr anstrengende Arbeiten. Viele Frauen, die geblieben sind, hätten alles verloren und seien nun allein mit den Kindern. Sie alle sind sehr erschöpft.
Genau, das habe ich bei unserer Zusammenkunft auch so gesehen. Die Soroptimistin und Ärztin Julia schilderte mir, dass in diesen Notzeiten die jungen Studenten Arbeiten von bereits Diplomierten übernehmen müssen und dass sie das Nötigste ständig griffbereit hat für den Fall eines Alarms. Anna, die Lehrerin, ergänzt, dass sie mit allen Schülern in die Schutzräume flüchte. Ich stelle fest, dass die Clubschwestern neben den beruflichen Herausforderungen, den Ängsten und Sorgen, noch viel Freiwilligenarbeit leisten.
Gedenkstätte bei Irpin in der Nähe von Kyjiw und Soldatinnen und Soldaten in Kyjiw
Welche Projekte unterstützt der Club SI Kyjiv im Moment?
Maria Bilodid hat zwei Kurse für Traumabewältigung initiiert. Valentina, von 2016-18 Präsidentin des Clubs SI Chernihiv, hilft ihr bei der praktischen Umsetzung. Rund 25 Frauen wurden mit Kunst-, Mal- und Musiktherapie, aber auch mit Physiotherapie unterstützt. Ein dritter Kurs ist geplant, denn das Bedürfnis ist gross. Ich begegnete einigen Kursteilnehmerinnen und war sehr betroffen von ihren Erzählungen. Anna beschreibt es so: “Dank des Kurses habe ich gelernt, meinen Ängsten um meinen Mann und meine grosse Tochter (beide an der Front) weniger Raum zu geben, indem ich mich mit anderen Menschen austausche oder zuhause backe.
Sowohl der Ehemann, wie der Schwiegervater der 58 jährigen Tatjana sind an der Front. Während 35 Jahren arbeitete die Ingenieurin im Atomkraftwerk Saporischschja. Jetzt lebt sie in Kyjiw. Sie mache sich Sorgen um ihren Mann. Tatjana sagt es so: „Die Traumabewältigung ist für mich eine Ablenkung von der Realität, vom Alltag. Ich wusste nicht, dass es Kurse gibt. Dies ist ganz neu und eine wundervolle Erfahrung.
Anna erzählt von ihren Erfahrungen im Kurs und Maria Bilodid, Präsidentin von SI Club Kyjiw
Nach 10 Tagen voller Eindrücke hast du dich in Kyjiw von Marias Familie verabschiedet und deine 40-stündige Rückreise angetreten. Viel Zeit um zurückzublicken. Welche Bilder begleiteten dich?
Es sind immer wieder die Frauen, die eine grosse Kreativität und Resilienz zeigen. Aber auch die Tarnnetz knüpfenden Studierenden am Polytechnikum von Lviv und Marias Schwiegervater, wie er in seiner kleinen Werkstatt Drohnen für die Armee zusammenbaut. Und dann denke ich an Marias Kinder und frage mich, wie wohl ihre Zukunft aussehen wird. Ich hoffe, dass sie alle weiterhin unterstützt werden von verschiedenen europäischen Clubs, der SI Union Schweiz und den beiden Clubs Kreuzlingen und Rapperswil.
Vielen Dank Annelies für diesen eindrücklichen Bericht und die Fotos.
Für die Ad-hoc-Kommission der Union Schweiz
Pia Tümpler