Montag, 21. März 2022

Seit dem 24. Februar 2022, dem russischen Angriff auf die Ukraine, sind wir mit einem neuen Krieg konfrontiert, mit Bildern von zerbombten Städten und Gebäuden, darunter Geburtskliniken und Theater. Mit Bildern von Menschen auf der Flucht. Oft sind es Frauen, die mit ihren Kindern und Haustieren flüchten. Mit diesem Krieg gegen die Zivilbevölkerung sollen die feindlichen Truppen demoralisiert werden – eine bekannte Kriegstaktik! Und dieser Krieg findet in Europa, in der Ukraine statt.

Bemerkenswerte Solidarität

Bei den Schweizer Soroptimistinnen lösten diese Bilder eine riesige Solidaritätswelle aus. Sie mobilisierten sich mit all ihrer Energie, ihren Beziehungen und ihren unzähligen Fähigkeiten für eine Hilfsaktion zugunsten der Ukraine. Sie sammelten Gelder und füllten LKWs mit Hilfsgütern. Unterstützung erhalten auch die benachbarten Länder Polen, Moldawien und die Slowakei. GANZ HERZLICHEN DANK AN ALLE!

Beunruhigung

Einige Tage später, am 8. März, dem Internationalen Frauentag, stellte ich mit grosser Beunruhigung fest, dass sich immer wieder das Gleiche abspielt. Ich sass in einem vollen Kinosaal neben meiner Berufspatin, der Journalistin Laurence Deonna, und schaute mir den eindrücklichen Film von Nasser Bakhti über ihr bemerkenswertes Leben an: Laurence Deonna Frei! Die bekannte Genferin und langjährige Soroptimistin war lange Zeit als Kriegsreporterin unterwegs.

Vor meinen Augen liefen die gleichen Bilder der Vernichtung ab, zwar nicht in Europa, aber in Syrien, im Jemen, im Irak und in Afghanistan. Was vor Jahren dort geschehen war, wiederholt sich nun mit der gleichen schrecklichen Gewalt vor unserer Türe. Die Bilder zeigten die Schönheit der Gebäude und Städte davor und dann die gleichen Häuser  zertrümmert, die gleichen gähnenden Löcher in den Strassen, die gleichen herumirrenden Menschen … die gleichen weinenden Frauen, die um ein Kind, einen Bruder, ihren Ehemann oder ihren Vater trauern … die versuchen, das Zerbrochene wieder so gut wie möglich zusammenzufügen, bevor andernorts erneut ein Krieg ausbricht … Laurence Deonna ** sagt dazu: «Es zeigt sich immer wieder, dass Frauen nie die Möglichkeit geboten wurde, Geschichte zu schreiben.»

Mut

Und was ich mit euch, meinen soroptimistischen Freundinnen, teilen möchte, ist dieses Gefühl, dass wir zwar nicht Geschichte schreiben und auch nicht die Kämpfe entfachen, aber über den Dingen stehen müssen. Es ist unsere Pflicht, uns für alle Frauen einzusetzen. Wir dürfen keine von uns aus den Augen verlieren, die in diesem Konflikt leidet, und auch die anderen Konflikte nicht vergessen. Und vor allem müssen wir uns klar sein, dass Politiker nicht unbedingt ein ganzes Volk repräsentieren. Und dass Frauen zu allen Zeiten im Widerstand waren und grossen Mut bewiesen haben. Ich denke an Anna Politkowskaja, die unermüdliche Kritikerin und Journalistin, die 2006 in Moskau ermordet wurde. Ich denke an die Soldatenmütter Russlands, die sich gemeinsam organisieren und versuchen, ihre Söhne zu schützen und sie davon abzuhalten, in den Krieg zu gehen. An die Mütter, die sich unermüdlich für den Frieden einsetzen.

Die Stimme der Lyrikerinnen

Wir Soroptimistinnen müssen uns unbedingt auf die Seite aller Frauen stellen, die auf die eine oder andere Weise unter diesen absurden Machtkämpfen zu leiden haben.

Dazu möchte ich Anna Achmatova zitieren. Sie zählt zusammen mit Marina Cvetaeva zu meinen russischen Lieblingsdichterinnen und hat – wie ich in einem Sammelband gesehen habe – mehrere Gedichte in Kiew geschrieben.

Anna Achmatova prangert in ihrem Gedicht «Requiem» den stalinistischen Terror an:
«Nein, und nicht unter einem fremden Firmament,
Und nicht unter dem Schutz fremder Flügel –
Ich war damals bei meinem Volk,
Wo meine Leute leider gewesen sind.»

Dann die berühmte Primaballerina Olga Smirnowa, die das Bolschoi-Ballet verlässt und ihre Karriere beim Dutch National Ballet fortsetzt: «Ich bin mit jeder Faser meiner Seele gegen diesen Krieg.» Und dieses bewegende Bild von den beiden Sängerinnen, der ukranischen Sopranistin und der russischen Mezzosopranistin, die sich am 26. Februar bei der Aufführung von Aida auf der Bühne des Teatro San Carlo in Neapel umarmen und zum Frieden aufrufen.

Zum Schluss möchte ich noch die Folgen erwähnen, die solche Konflikte für die Menschen haben. Meine heute 91-jährige Mutter, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, zittert noch heute, wenn sie Sirenen hört. Damals lebte sie in Paris und musste bei Sirenenalarm in den Keller runtersteigen. Gestern sagte sie mir: «Dieser neue Krieg ist schrecklich. Er könnte durchaus ausarten!»

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* 1910 versammelte sich die Sozialistische Internationale in Kopenhagen.
Dort schlug die deutsche Aktivistin Clara Zetkin vor, Frauen auf der ganzen Welt an einem einzigen Tag zu mobilisieren, um das Bewusstsein für die Sache der Arbeiterinnen zu schärfen.
«… die Sozialistinnen aus allen Ländern werden jährlich einen Frauentag organisieren, hauptsächlich mit dem Ziel, das Wahlrecht zu erlangen. /…/ Der Frauentag soll international und Gegenstand einer sorgfältigen Organisation sein…»
**Laurence Deonna: «An alle Frauen aus allen Kriegen – arabische und israelische Frauen berichten», Galgenberg, 1988.